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Lechuga Zafiro: Hinter jedem Sound eine Geschichte

Die emotionsgeladene Ausstrahlung von Lechuga Zafiros Album Desde Los Oídos De Un Sapo konfrontiert uns mit einer völlig neuen Art von Tanzmusik. Seine klappernden Rhythmen brechen mit dem gängigen Konzept von am Grid angelehnten Beats und seine eigenwillige Klangpalette erscheint, als wäre sie aus einer anderen Welt herübergebeamt worden. Für den uruguayischen Produzenten Pablo de Vargas ist derweil alles an seiner Musik zutiefst persönlich. „Ich kann dir alles über jeden Sound auf der Platte erzählen“, erklärt er von seiner Wohnung in Barcelona aus. „Selbst wenn du mich nach dem kleinsten Element fragst, hinter allen steckt eine Geschichte.“
Vargas hat seinen einzigartigen Sound geschaffen, indem er wirklich alles aus seiner persönlichen Riesen-Bibliothek an Feldaufnahmen rausgeholt hat. Vom Trommeln auf Baumstämmen im Dschungel bis hin zur Kreativ-Bearbeitung eines Froschchors: seiner Musik hat er einen Charakter verliehen, den wirklich niemand nachahmen könnte. Einige seiner selbstgebauten Sounds hat er in ein Drum Rack geladen, das als Teil dieses Features exklusiv als Download verfügbar ist.
*Erfordert Live 12 Suite
Verglichen mit dem Einsatz von gewöhnlichen Samples, die auf bestimmte Funktionen abzielen und entsprechend leicht in Kompositionen eingefügt werden können, ist Vargas‘ Ansatz ein mühsamer Prozess.
„Auf meiner neuesten Platte ist ein Harfensample als Lead und möglicherweise auch eine 808“, gibt er zu. „Manche von den Plug-Ins, die ich benutze, bereichern bereits vorhandene Sounds oder bringen ihnen etwas Synthese bei, aber 90 Prozent der Sounds habe ich tatsächlich selbst aufgenommen. Deshalb hat es so unglaublich lange gedauert, das alles zu machen."
Die herausstechende Andersartigkeit von Vargas‘ Musik blieb nicht unbemerkt, als Desde Los Oídos De Un Sapo im Jahr 2024 auf dem berühmten kolumbianischen Label Tra Tra Trax erschien. Das Album landete in den Jahresendcharts auf dem ersten Platz und wurde als Überraschungs-Release eines Überflieger-Talents gefeiert. Vargas hatte seit 2015 einige kleinere digitale Releases und wurde stets an seiner neu veröffentlichten Musik gemessen, während er seinen Umgang mit Sounds weiterentwickelte. Der Job als Tontechniker für Film und Fernsehen war dabei eine gute Basis für seine Herangehensweise an Feldaufnahmen.
„Der Ausgangspunkt für mein Album war die Idee, es nur mit Sounds zu produzieren, die ich selbst aufgenommen habe“, erklärt er. „Ich habe all die Jahre lang Aufnahmen gemacht. Am schwierigsten ist für mich immer noch die Entscheidung, welche Sounds zusammenpassen. Ich habe seit 2021 mit Unterbrechungen an diesem Album gearbeitet. Aber der Großteil der Arbeit bestand in der Sound-Verarbeitung und nicht im eigentlichen Komponieren. Vermutlich hat es deshalb so lange gedauert.
Auch wenn es wahrscheinlich nicht der glamouröseste Teil des Kreativ-Prozesses war, hieß der Schlüssel zum Erfolg bei der Arbeit an seinem Album Organisation. Nur so konnte er mit der riesigen Klangfülle arbeiten, die er im letzten Jahrzehnt angesammelt hatte. „Ich habe viel Zeit damit verbracht, nachzulesen, wie man Sounds richtig ordnet“, verrät er. „Ich bin davon besessen. Ich ordne alles nach Jahren, nach Aufnahmereise. Ich mache mir haufenweise Notizen oder spreche ins Mikro, was ich gemacht habe. Auch die Bücher von Pierre Schaeffer waren eine Offenbarung. Ich habe einige Dinge gelernt, die für mich echt wichtig waren. Zum Beispiel, mir Gedanken über minimale Zeitfragmente zu machen – was in den ersten 15 Millisekunden von Sounds passiert und wie sich das darauf auswirkt, wie man sie wahrnimmt.“
Die meisten Sounds auf Desde Los Oídos De Un Sapo hatte Vargas bereits vor Beginn der Produktion aufgenommen, aber beim Arbeiten an manchen Tracks trieb ihn die Inspiration dazu, noch mehr experimentelle Aufnahme-Sessions zu machen. Als er einen Rhythmus aus Wasserspritzern machte, verarbeitete Vargas die Sounds auf eine Weise, die ihn an Glas erinnerte. So kam er darauf, Patterns auf einen Glastisch und andere Sachen aus Glas zu trommeln, die allesamt in den letzten Track „Agua De Vidrio“ einflossen. Das heißt übersetzt „Glaswasser“.
Viele Sounds auf dem Album behalten ihren organischen Ursprung, doch einige markante Töne klingen auch ziemlich synthetisch. Das Album endet mit dem Titelsong „Desde Los Oídos De Un Sapo“ („Aus den Ohren einer Kröte“), einem an Melodien reichen Stück, das auf übereinander gelayerten Aufnahmen von Fröschen basiert. Die Herkunft der Sounds ist nicht sofort offensichtlich, weil Vargas die Aufnahmen mit Tools wie Zynaptic's Pitchmap verarbeitet hat.
„Pitchmap berücksichtigt den Frequenzgehalt der Sounds. Darum kann man meiner Meinung nach immer noch erkennen, dass es sich um Frösche handelt“, betont Vargas, „aber einige Frequenzen dieser Sounds werden tatsächlich automatisch polyphon getuned, damit sie innerhalb der Tonleiter Sinn ergeben.“
Vargas dokumentiert seine Field-Recording-Abenteuer in den sozialen Medien: vom Dschungel bis in die Berge, von weiten Feldern bis in verlassene Hotels. Seine Arbeit basiert auf taktilem Spiel, beispielsweise dem Trommeln auf Metallgeländern und umgestürzten Bäumen, dem Rascheln von Blättern und Plätschern in Bächen. Sound ist so leicht verfügbar, sogar ohne den Rechner zu verlassen. Genau darum trägt Vargas‘ Drang, ihn an allem in seiner Reichweite zu erforschen und einzufangen, so sehr zur einzigartigen Energie seiner Musik bei. Aktuell bereist er unterschiedlichste Orte, von den Kanarischen Inseln bis nach Kroatien, um Aufnahmen von Baumstamm-Drums zu machen. Damit will er eine eher runtergefahrene EP mit rohen Rhythmen und einem leichten Synthie-Hauch produzieren. Aber auch unabhängig von seinen selbst-kreierten Samples bekommt Vargas' Sound durch räumliche Gestaltung eine ganz individuelle Qualität.
„Ich möchte eine Sammlung von Impuls-Echos aus Höhlen aufbauen“, verrät er. „Ich habe einige Höhlen in Puerto Rico, Uruguay und auf den Kanarischen Inseln aufgenommen. Als ich das das erste Mal in Uruguay gemacht habe, bin ich einfach in eine Höhle gegangen, ohne wirklich zu wissen, was ich machen will. Der Nachhall dieser Höhle klang unglaublich, richtig feucht. Der Sound ist dick… Keine Ahnung, er hat was Besonderes. Ich finde es total interessant, selbst Räume zu konzipieren. Die Beziehung zu dem, was man aufnimmt, stiftet immer Sinn.“
Es sind nicht nur die Sounds von Lechuga Zafiro, die für Vargas voller Bedeutungen stecken. Rhythmus ist das Fundament für die überwältigende Wirkung seiner Musik. Er lässt seine Feldaufnahmen-Klangteppiche auf Patterns hüpfen und schwingen, die in seiner uruguayischen Erziehung verankert sind. Aktuell lernt er in Barcelona kubanische und Salsa-Percussion. Und auch wenn er seine Übungen auf MIDI-Drum-Pads mit entwaffnenden Disclaimern wie „perdón percusionistas de verdad, todavía soy como un bebé q no sabe hablar bien“ (Entschuldigt, liebe Percussionisten, ich bin noch ein Baby, das nicht gut sprechen kann) eröffnet, ist Vargas‘ Verbindung zur Percussion tief in seinem Wesen verwurzelt. Prägend für seine rhythmische Sprache ist Candombe, die afro-uruguayische Musik, die sich in seinem Heimatland in allen Lebensbereichen wiederfindet.
„Wenn man in Montevideo lebt, kommt man um Candombe nicht herum“, betont Vargas. „Ich bin dort aufgewachsen. Es ist wirklich überall. Zunächst einmal ist es auf der Straße. Du hörst es jedes Wochenende. Es hat seinen Weg in die Pop-Musik gefunden. Die Art und Weise, wie die Menschen ihre Gitarren spielen, wie sie Keyboard spielen, all das ist von dieser Kultur geprägt. Sogar wenn man ins Fußballstadion geht, basiert der Rhythmus, in dem die Leute singen, auf Candombe.
„Als ich angefangen habe, Leuten aus dem Süden der Welt wie Fela Kuti wirklich zuzuhören, die tatsächlich an die Rhythmen glauben, mit denen sie geboren wurden – habe ich auch meine Ohren und Augen für das geöffnet, was in Uruguay los war. Dasselbe gilt für Kuduro oder westafrikanische Elektro-Musik, die dem Candombe schon sehr ähnlich schien. Mir wurde klar, dass das größer war als die uruguayische Musik – all diese Patterns, die durch versklavte Menschen nach Südamerika transportiert wurden.“
Für Vargas wurde es immer wichtiger, der Politik, die diesen Rhythmen innewohnt, auch in seiner Musik Ausdruck zu verleihen. Er spielt seit Jahren mit F5, einer Percussion-Gruppe aus Montevideo, die er mit auf sein Boiler Room Buenos Aires-Set mitgebracht hat. Die Repräsentation seiner Kultur und ihrer Verbindungen zu anderen Kulturen der südlichen Hemisphäre ist in einer Musikszene, die oft von westlichen Musikstandards dominiert wird, von entscheidender Bedeutung. Die Grundlage seiner Beat-Konstruktionen bilden von Candombe inspirierte, händisch gespielte Drum-Patterns, die entweder aus Feldaufnahmen stammen, auf einem MIDI-Keyboard gejammt oder auf Pads gespielt werden. Daher sind seine Arbeiten nicht an ein Grid gebunden, sondern folgen dem Grundrhythmus, den er von Hand vorgibt. Häufig wird dieser durch polyrhythmische Layers weiter ausgedehnt, sodass es dem Zuhörer überlassen bleibt, den metronomischen Puls zu bestimmen.
Und als wenn seine Rhythmen nicht schon unvorhersehbar genug wären, hat Vargas auch eine Vorliebe dafür, Tracks mit kühnen Unterbrechungen auseinanderzunehmen. Und die gehen klanglich deutlich weiter, als man es von Breaks innerhalb von Dance-Musik gewohnt ist. Im Mittelteil von „Cama Rota“ gerät der frenetische, vom Dembow geprägte Beat aus der Bahn und macht eine scharfe Linkskurve in einen rollenden Groove, der vom manischen Quietschen eines kaputten Bettes geprägt ist, bloß damit das Tempo anschließend in ein zeitlich gestrecktes Loch abtaucht, bevor sich schließlich alles komplett auflöst. All das ist bewusst schwindelerregend und mit der Absicht konzipiert, einen gewissen Schockfaktor zu erzeugen, den man sonst eher von EDM oder Jump-Up-Drum & Bass kennt.
„Das hat damit zu tun, dass sich dein Geist an einen Rhythmus gewöhnt. Dann plötzlich verändert man die Wahrnehmung und damit auch die innere Einstellung“, erklärt Vargas seine Liebe dazu, Tracks bis ins kleinste Detail auseinanderzunehmen. „Es ist wie bei manchen Drogen, durch die man eine echte Veränderung der Wahrnehmung erlebt. Das kann sich einerseits wie eine Täuschung aber gleichzeitig wie eine Wohltat für den Geist anfühlen.“
Das Wesen von Desde Los Oídos De Un Sapo zeigt aber auch, dass Clubmusik eine bestimmende Rolle in Vargas‘ musikalischer Orientierung spielt. Insbesondere die südamerikanische Clubszene war eine treibende Kraft, die sich nun mit der Veröffentlichung des Albums bei Tra Tra Trax ganz deutlich offenbart. Das kolumbianische Label genießt weltweit Anerkennung für den schieren Futurismus und die starke kulturelle Identität der von ihm veröffentlichten Künstler. Von 2013 bis 2018 hat Vargas Partys in Montevideo mitorganisiert und eine gute Verbindung zu Szenen und Kollektiven in Buenos Aires, Sao Paulo, Santiago de Chile und Mexiko-Stadt aufgebaut. Zu den Künstlern aus der Region, die er sehr bewundert, gehört Siete Catorce, ein mexikanischer Produzent, der den Weg für viele südamerikanische Produzenten elektronischer Musik geebnet und ihnen geholfen hat, mutige neue Clubmusik mit einem starken Sinn für regionale Identität zu entwickeln.
„Siete Catorce war schon immer einer meiner Helden“, schwärmt Vargas. „Er hat 2013 eine EP veröffentlicht, die das Leben aller in der damaligen Szene verändert hat. Ich habe vor einem Monat tatsächlich ein paar Tage bei ihm zu Hause in LA verbracht und wir haben ein paar Stücke aufgenommen. Ich habe ihm ein paar von meinen Vogel-Sounds gegeben und er hat daraus einen abgefahrenen Synthesizer gemacht. Jetzt, wo ich eine besser organisierte Bibliothek hab, möchte ich anfangen, meine Sounds mit Freunden zu teilen und sehen, was draus machen.“
„Ich kann dir alles über jeden Sound auf der Platte erzählen … selbst hinter dem kleinsten Element steckt eine Geschichte.“
Trotz dieser Clubverbindung fndet Vargas nicht, dass Desde Los Oídos De Un Sapo eine besonders DJ-freundliche Platte ist. Auf gewisse Weise kann man das nachvollziehen, wenn man sich die unbeständige Natur der Rhythmen und die Tendenz zu unvorhersehbaren Wechseln in den Arrangements vor Augen führt. Doch natürlich hat es schon genügend mutige DJs gegeben, die die emotive Durchschlagskraft seiner Produktion eingesetzt und dafür auch sehr gutes Feedback bekommen haben. Vargas hat unterdessen seinen eigenen Weg gefunden, die Grenzen des konventionellen digitalen DJings zu verschieben und seine Begeisterung für Percussion in jedes seiner Club-Sets einzubringen. Er rendert seine Tracks in einzelne Stems. Die verteilt er auf einzelne CDJs, wobei er dann Hot Cues und Drum-Pads zum Auslösen verwendet, um seine Tracks aus dem Stand heraus zu rekonstruieren und auf die Leute loszulassen.
„Wenn man wie ich ein ängstlicher Mensch ist, hat man auf diese Weise einen Grund, die ganze Zeit beschäftigt zu sein“, lächelt er. Sich fernab der Sicherheiten des konventionellen DJings in die rhythmische Grenzzone handgetriggerter Beats zu bewegen, klingt nicht nach dem Schaffen eines besonders ängstlichen Menschen. Und auf Aufnahmen seiner Auftritte lässt Vargas es ganz schön einfach aussehen, egal wie komplex die Drums werden. Das ist Teil seiner Art und Weise, herauszustechen. Und damit hinterlässt er bei allen, die mit seiner Musik in Berührung kommt einen bleibenden Eindruck, sobald sie versuchen, diesen seltsamen, wilden neuen Sound zu begreifen.
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Text und Interview: Oli Warwick
Fotos und Videos mit freundlicher Genehmigung des Künstlers